Die Übungen im dritten Studiensemester sind den traditionellen Mess- bzw. Untersuchungsverfahren des Binokularsehens gewidmet. Diese gestatten es dem Untersucher zu beurteilen, wie gut koordiniert die beiden Einzelaugen gesteuert sind, ob und ggf. wie gut die Verarbeitung der beiden Einzelbilder von rechtem und linkem Auge zu einem gemeinsamen Seheindruck funktioniert und welche Qualität dieser hat.

In den zugehörigen Vorlesungen wird eine Vielzahl von Verfahren betrachtet, von denen in den Übungen im Labor einige wesentliche, auch heute noch angewendete Verfahren praktisch erprobt werden.

Ziel ist es, die Studierenden in die Lage zu versetzen, die verschiedenen Verfahren 'mit Verstand' anwenden zu können und die Aussagekraft der ermittelten Messwerte bewerten zu können.

Den Einstieg in die Betrachtungen zum Binokularsehen eines Klienten liefern die im Anamnesegespräch erlangten Informationen. Schnell durchführbare Tests geben weitere Hinweise:

Beim Motilitätstest wird der Klient aufgefordert, einem kleinen Objekt (Stiftspitze, PenLight o.Ä.) bei unbewegtem Kopf mit den Augen zu folgen. Dabei wird beurteilt, wie geschmeidig die Folgebewegungen der Augen sind, vor allem aber, ob beide Augen dem Objekt bis in alle Extremblickrichtungen folgen können, oder ob eines der Augen in einer der geforderten Richtungen Schwierigkeiten zeigt. Die Studierenden werden eindringlich instruiert, Klienten mit erst kürzlich neu aufgetretenen Störungen der Augenbeweglichkeit unbedingt einer ärztliche Abklärung der Ursachen zuzuführen. Erst danach sollte geprüft werde, ob eine Prismenbrille bei blickrichtungsabhängigen Störungen hilfreich ist.

Der schnell zu ermittelnde Konvergenz-Nahpunkt gibt einen Hinweis auf Auffälligkeiten in der Ausrichtung der Augen beim Nahsehen. 

Der einseitige Zudecktest dient der Prüfung auf Strabismus, also manifeste Stellungsfehler der Augen. Mit dem Uncovertest wird auf Vorliegen von Heterophorie, also verborgene Stellungsfehler geprüft. Die Studierenden lernen die Teste anzuwenden, die gefundenen Erscheinungen zu deuten sowie zwischen beiden Arten von Stellungsfehlern der Augen zu unterscheiden. Sie lernen auch, gefundene Einstellbewegungen mit der Prismenleiste auszugleichen.

Die Studierenden lernen die verschiedenen Ansätze zur Korrektion von Stellungsfehlern der Augen kennen und lernen die bestehenden Tests anzuwenden. Einer davon ist das Maddox-Kreuz.

Für die Bestimmung eines Ruhestellungsfehlers am Maddox-Kreuz wird vor einem der beiden Augen ein Glas angeordnet, das das Bild extrem stark verzerrt. Die Netzhautbilder beider Augen sind dadurch so unterschiedlich, dass kein Reiz mehr besteht, sie zu einem gemeinsamen Bild zu verschmelzen. Damit ist auch der Zwang zur Ausrichtung beider Augen auf ein gemeinsames Sehobjekt aufgehoben. Die Augen können sich nun frei in ihre „bequemste“ Stellung zueinander begeben, auch wenn dies eine Schielstellung ist. Das Auge mit dem Vorsatzglas sieht den zentralen Lichtpunkt des Maddox-Kreuzes nicht als Lichtpunkt, sondern als Lichtstrich. Hat sich das Augenpaar in eine Abweichstellung zueinander begeben, so verläuft der Lichtstrich nicht mehr durch den Lichtpunkt, sondern ist versetzt dazu.

Die Skala des Maddox-Kreuzes dient dazu, den Prismenwert zu finden, der Lichtpunkt und Lichtstrich wieder zueinander führt. Da dieses Prisma nach MADDOX aber nicht voll verordnet werden sollte, sondern lediglich ein Teil davon der Unterstützung der Augenmuskulatur dienen soll, wird der gefundene Messwert nach einer Rechenformel reduziert.

Der Schober-Test ist ein klassischer, insbesondere in der Ophthalmologie und der Orthoptik verbreiteter Heterophorie-Test.

Wie der Maddox-Test ermöglicht er Aussagen zum motorisch (per äußerer Augenmuskulatur) kompensierten Anteil einer Heterophorie. Er nutzt das Anaglyphenverfahren zur Aufhebng des Reizes, die Einzelbiulder von rechtem und linkem Auge zu verschmelzen. Dabei werden unteschiedliche Farbfilter vor beiden Augen angeordnet, die dafür sorgen, dass beide Augen jeweils nur bestimmte Anteile des Gesamt-Testbildes sehen, üblicherweise das rechte Auge nur das zentrale Kreuz und das linke Auge nur die umgebenden Kreise.

Aufgrund der Unähnlichkeit der Bilder auf rechter und linker Netzhaut, besteht dann kein Zwang mehr, die Augen in bestimmter Weise auszurichten. So können beide Augen wieder die 'bequemste' Stellung zueinander einnehmen, auch wenn dies eine Schielstellung sein sollte. Dann wird das Kreuz nicht mehr im Zentrum der Kreise wahrgenommen. Vom Untersucher wird dasjenige Prisma ermittelt, das die zentrierte Stellung des Kreuzes in den Kreisen wiederherstellt.

Da auch SCHOBER lediglich den „Störanteil“ eines Stellungsfehlers korrigieren wollte, wird der ermittelte Messwert nach einer eigenen Rechenformel abgeschwächt. 

Die Fusionsbreite gibt an, welche Fehlstellung der Augen in beide Richtungen maximal überwunden werden kann, bevor Doppeltsehen eintritt. Ein Teil dieser Fusionsbreite wird bei Personen mit einem Ruhestellungsfehler für die Kompensation dieses Fehlers verbraucht. Der übrige Teil ist die Fusionsreserve.

Wenn diese Reserve nur noch sehr gering ist, sind Sehprobleme wahrscheinlicher als bei großer Reserve. So kann die Messung der Fusionsbreiten und -reserven Hinweise geben, wie wahrscheinlich ein Zusammenhang zwischen einem bestehenden Ruhestellungsfehler der Augen und Beschwerden beim Sehen ist.

Die Studierenden lernen die Fusionsbreiten und -reserven zu messen und die Ergebnisse zu interpretieren. Dazu werden Messungen auf Gegenseitigkeit durchgeführt, protokolliert und anschließend diskutiert.

Die Korrektionsregeln für Heterophorien geben an, welcher Anteil der gemessenen Heterophorie in die Verordnung übernommen werden soll. Es sind also ausnahmslos Unterkorrektionsregeln. Es besteht eine Vielzahl solcher Regeln (nach MADDOX, SCHOBER, FREEMAN, SHEARD, PERCIVAL). Alle diese werden in den zugehörigen Vorlesungen vorgestellt, diskutiert und mit Rechenbeispielen vertieft. Auch aus den in den Übungen ermittelten Heterophorie-Messwerten wird jeweils der nach der zugehörigen Regel zu verordnende Korrektionswert berechnet.

Ziel ist es, dass die Studierende den gedanklichen Ansatz der verschiedenen Verfahren verstehen, eine Vorstellung davon haben, wie ärztlich/orthoptisch verordnete Prismenwerte zustande kommen und die auf diese Weise ermittelten Korrektionswerte bezüglich deren Auswirkung auf bestehende Sehprobleme einschätzen können.

Beim Blick auf ein nahes Objekt wird die Brechkraft des Auges erhöht (Akkommodation) und beide Augen richten sich auf den angeblickten Punkt aus, indem sie einwärts schwenken (Konvergenz). Diese Vorgänge sind miteinander gekoppelt, ihr Zusammenspiel funktioniert aber nicht bei allen Menschen gleich gut. Dieses Zusammenspiel messtechnisch zu erfassen und zu bewerten ist Gegenstand der Betrachtungen und Übungen zum sogenannten ACA-Verhältnis.

Bei dieser aufwändigen Methodik wird eine Vielzahl von Messungen bzw. Berechnungen durchgeführt, aus deren Ergebnissen ein Diagramm erstellt wird. Dieses Diagramm ermöglicht Aussagen darüber, in welchen Sehdistanzen Schwierigkeiten im Zusammenspiel von Akkommodation und Vergenz zu erwarten sind. Auf dieser Basis kann ein Korrektionsvorschlag erarbeitet werden, der sowohl in einer Unterstützung/Entlastung des Akkommodationssystems mit sphärischen Brillengläsern als auch in einer Unterstützung/Entlastung des Vergenzsystems mit prismatischen Brillengläsern bestehen kann. Diese Methodik und die ihr zugrundeliegenden Gedanken sind besonders in den USA verbreitet.

Die Studierenden führen alle zugehörigen Messungen an einem Arbeitspartner durch, erstellen das zugehörige Diagramm und erarbeiten die sich ergebenden Korrektionsvorschläge. Die Methodik hat sich aus verschiedenen Gründen in Europa bisher kaum etabliert, ist aber von hohem didaktischen Nutzen, weil sie viele Aspekte des beidäugigen Sehens berührt und den Studierenden deren Verknüpfungen im Sehprozess deutlich macht.